Sonntag, 13. Dezember 2009

Tot und heilig? - Hubertus Lutterbach

In Form eines wissenschaftlichen Essays präsentiert der Essener Christentums- und Kulturhistoriker Hubertus Lutterbach seine Untersuchung mit dem Titel Tot und heilig? Personenkult um "Gottesmenschen" in Mittelalter und Gegenwart. Im Einband werden zwei Personen bereits als zentrale Figuren herausgestellt: Papst Johannes Paul II. und Lady Diana zieren den Umschlag des Buches.
Es handelt sich hier um eine geisteswissenschaftliche Arbeit mit kulturwissenschaftlichen Zügen, in der es um die verschiedenschichtigen und pluriformen Aspekte der spontanen Heiligsprechung des verstorbenen Papstes durch das Kirchenvolk in Rom und anderorts geht, die mit einer Untersuchung über die Rolle der deutschen Medien bei diesem Heroisierungsprozess verbunden ist und dann auf Vergleichsmaterial ausgreift.

Lutterbach geht vom Heroenverständnis der Antike aus und verwendet - für kulturwissenschaftlich aber nicht religiös Interessierte wahrscheinlich eher irritierend - von Anfang an das Wort "Gottesmensch". Nach einer kurzen, überleitenden Erörterung über das Verständnis von Heiligkeit in den mittelalterlichen Heiligenviten steigt er in die Untersuchung des "subito santo"-Rufes nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. ein.

Die Aspekte des Lebens und Sterbens jenes Papstes, der für einen Gutteil der Bevölkerung westlicher Staaten der Inbegriff des Begriffes Papst war (heute Dreißig- bis Vierzigjährige haben seine Vorgänger gar nicht oder kaum bewusst wahrgenommen und erst seit viereinhalb Jahren sehen sie eine andere Person in dieser Funktion), splittert der Autor dann nach Kriterien für einen "Gottesmenschen" auf, die aus der einleitenden Analyse hervorgegangen waren. Dies tut er sehr sorgfältig und präzise, teils so akribisch, dass die Unterscheidungen zwischen den einzelnen Aspekten verschwimmen und beim Lesen immer wieder kleine déjà-vu-Erlebnisse auftreten (auch wenn er sich an keiner Stelle tatsächlich wiederholt).
Als Quelle dafür verwendet Lutterbach die Berichte in ausgewählten, deutschen Zeitungen und Zeitschriften, die in der Woche nach dem Tod des Papstes erschienen sind.

Was nach diesem umfangreichen Hauptteil folgt, ist ein papstgeschichtlicher Rückblick und ein Ausblick auf andere Persönlichkeiten, denen man vordergründig eine ähnliche Bedeutung zusprechen würde. Der durchaus interessante Blick auf Johannes XXIII., Lady Di und Ghandi wird allerdings durch den Versuch belastet, methodisch analog vorzugehen, was angesichts der Veränderungen der Medienlandschaft allein während des Pontifikats Johannes Paul II. schon vorweg das Ergebnis erahnen lässt.

Stichwort Ergebnis: Getrübt wird der Eindruck der Untersuchung von der Tendenz, bei den Vergleichsuntersuchungen immer wieder mehr oder weniger bestimmt ein Resultat zu erzielen und dieses dann mit den Beschreibungen aus der umfangreichen und genauen Untersuchung der medialen Wahrnehmung des verstorbenen Papstes in den deutschen Medien in Verhältnis zu setzen.

Das Buch, sorgfältig gearbeitet mit genauen Endnoten und einer umfangreichen Literaturliste, stellt eine durchaus interessante Lektüre für Zwischendurch dar, bei der man sich nicht scheuen sollte, auch einmal ein paar Kapitel diagonal zu lesen oder ganz zu überblättern. Zum Verständnis über die Formen heutiger Personenverehrung (und ihres anachronistischen Charakters in Zeiten naturwissenschaftsdominierter Rationalität) trägt es mehr bei als die Massen von "Mythos N.N."-Publikationen und -Dokumentationen, mit denen die Öffentlichkeit regelmäßig an irgendwelchen Jahrestagen überschüttet wird. Zudem ist es eine interessante Zusammenstellung der Geschichten und Legenden rund um Karol Wojtyła, doch das Interesse, das es durch seinen Untertitel weckt, kann es nicht zufriedenstellen.

Lutterbach, Hubertus.: Tot und heilig? Personenkult um "Gottesmenschen" in Mittelalter und Gegenwart, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2008. ISBN-978-3-534-20841-8

Mittwoch, 20. Mai 2009

Sind Evangelikale Fundamentalisten? - Eckehard J. Schnabel

Das 1995 erschienene Büchlein Sind Evangelikale Fundamentalisten? von Eckhard J. Schnabel bietet eine leicht verdauliche und verlässliche Einführung in die Begriffsfelder, die im Titel schon angesprochen sind: Evangelikalismus und Fundamentalismus.

Nach bestimmten Erfahrungen, besonders mit den lautestene und aktivsten Gruppen innerhalb des Evangelikalismus, fragt man sich zwar, wie man hinter einen solchen Buchtitel noch mehr als zwei Buchstaben Inhalt anbringen kann, doch Schnabel schafft das ohne Mühe:

Begriffsdefinitionen für Evangelikalismus und Fundamentalismus bilden den Anfang, eine kleine Defensio des Fundaments bildet danach die Überleitung zu einer Analyse der evangelikalen Szene, die durchaus wohlwollend ausfällt.

Für jemanden, der sich bereits mit dem nordamerikanischen Christentum auseinandergesetzt hat, bietet das Buch bestenfalls das ein oder andere Zitat, Interessierten allerdings ist die Lektüre durchaus zu empfehlen, da es eines der wenigen Werke zum Thema ist, das trotz einer gewissen Fundierung - das Niveau des Populärwissenschaftlichen verlässt das Buch allerdings kaum - eigentlich nie in den für andere Autoren schier unvermeidlichen Zynismus verfällt.

Meinen ersten Reflex, sofort nachzuforschen, wie nah der Verfasser eventuell der evangelikalen Szene stünde, habe ich bis jetzt erfolgreich unterdrückt und aus Zeitgründen wird sich das auch nicht so schnell ändern. Man muss nicht alles wissen.

Schnabel, Eckhard J.: Sind Evangelikale Fundamentalisten?, Brockhaus, Wuppertal 1995. ISBN: 978-3-458-71005-9 oder auch: ISBN-3-417-29067-8

Freitag, 17. April 2009

Amerikanische Religion - Michael Hochgeschwender

Ich erlaube mir gleich vorweg zwei Sätze, um Missverständnissen über dieses Buch und seine Rezension vorzubeugen: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus lautet der volle Titel des Essays von Michael Hochgeschwender - damit ist schon einmal der erste denkbare Fehlschluss aus dem Kurztitel ausgeräumt: Thema dieses Essays ist das Christentum in seinen spezifisch amerikanischen Ausprägungen, andere Religionen werden darin nicht behandelt. Zur zweiten möglichen Erwartung, dass Amerika als Kontinent den geographischen Rahmen bilden könnte, sei auch gleich eingangs bemerkt: Hochgeschwender behandelt die religiöse Situation in den USA. Manche mögen beides für selbstverständlich halten, ich tue das nicht und möchte es daher schon vorher klären.

Nach dem Ende der Ära Bush II scheinen manche europäische BeobachterInnen den Fehler machen zu wollen, und die Bedeutung der evangelikal-fundamentalistischen Szene für zurückgehend zu halten. Dafür gibt es keine Anzeichen, auch wenn sich die Wahl von Barack Obama sicherlich auch auf die Rolle der Evangelikalen in den USA auswirken wird.
Das Buch von Michael Hochgeschwendner ist 2007 erschienen und dieses Erscheinungsdatum liegt wohl schon nach der Blütezeit der Ära Bush - die wichtigen Mid-Term-Elections waren verloren, die Umfragewerte waren tiefer denn je, aber es waren auch die wichtigsten Stellen - vor allem die Richterstellen am Obersten Gerichtshof - längst nachbesetzt.
Der Aktualität dieses Buches tut das alles aber keinen Abbruch, und man kann getrost behaupten, dass Hochgeschwendner hier einen umfassenden und breit angelegten Durchgang durch die Geschichte des spezifisch nordamerikanischen Christentums bietet, den man in der Dichte wohl nicht so schnell anderswo finden wird.

Ausgehend von der Geschichte des Calvinismus der ersten Siedler zeigt er auf, wie Zuwanderung, politische Konflikte (Antikolonialismus, Abolutionismus, ...) und die verschiedenen Gesellschaftskonzepte wie Puritanismus und viktorianische Vorstellungen zusammen mit verschiedenen Konflikten wie dem Antikatholizismus, der Prohibition und der schon in den vergangenen Jahrhunderten in den USA offen ausgelebten Lust an der sozialen Disziplinierung Anderer verschiedene Prozesse von Instutionalisierung und Selbstkommodifizierung einerseits und von Erweckungsbewegungen andererseits hervorgebracht haben, die dann die schier unüberschaubare denomitionale Vielfalt des Christentums hervorbrachten.
Verschiedene Wechselspiele, die zeitweise offen und zeitweise latent wirksam waren, wie jenes zwischen Marktkonformität und Selbstkommodifizierung einerseits und Erweckungsbewegungen andereseits, jenes zwischen Heilsexklusivismus und Mission, aber auch zwischen politischer Parteilichkeit und Äquidistanz, Regionalität und Universalität, Norden und Süden, Stadt und Land kennzeichnen diese Entwicklung und führen zur Entstehung der verschiedenen Denominationen, die unter den Begriffen Evangelikalismus, Pfingstbewegung und Fundamentalismus zusammengefasst sind.

Es scheint schier unmöglich, hier eine durchschaubare und verständliche Kurzfassung abzugeben. Wer über die Geschichte des nordamerikanischen Christentums Bescheid wissen will, wird jedenfalls um diese Lektüre kaum herumkommen.

Somit beschränke ich mich hier auf ein paar Äußerlichkeiten: das Buch ist in einer Präzision gearbeitet, die noch selten wo zu finden war - immer wenn man vermeinte, einen Fehler entdeckt zu haben, stellte sich heraus, dass es sich um eine durchdachte und ausgefeilte grammatikalische Konstruktion handelt. Die Sprache ist leicht verständlich, wenngleich man bisweilen verschiedene Begriffe (vor allem aus dem Englischen, aber auch Abkürzungen und Gruppenbezeichnungen) außerordentlich gut unterscheiden können muss.
Insgesamt eine äußerst informative und empfehlenswerte Lektüre, aber halt kein Buch für einen Nachmittag am Pool.

Hochgeschwender, Michael: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Verlag der Weltreligionen / Insel-Verlag: Frankfurt am Main und Leipzig, 2007. ISBN: 978-3-458-71005-9 oder auch: ..., Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007 ISBN-10 3458710051 ISBN-13 9783458710059

Freitag, 2. Januar 2009

Der Atheismus-Wahn - Alister McGrath

Über das Buch Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus. sind bereits zahlreiche Rezensionen, Kommentare und Kritiken im Internet zu finden. Die meisten davon fallen verhalten bis negativ aus und begründen dies mit dem wenig originellen Argument, der Autor würde für seine Argumentation die selben Methoden anwenden, die er bei Richard Dawkins heftigst kritisiert.
Streckenweise ist das auch nicht von der Hand zu weisen, allerdings: Zum Einen müssen nicht alle zuerst selbst Heilige sein, um andere kritisieren zu dürfen, zum Anderen greift das Argument im Hinblick auf den Stil und den Umgang mit Quellen und Zitaten nicht wirklich: der sprachliche Stil und die Rhethorik unterscheidet sich kaum von anderen populärwissenschaftlichen Texten aus dem anglo-amerikanischen Raum und die AutorInnen belegen ausreichend sowohl Zitate als auch Zusammenfassungen und Anspielungen. Dass ein gewisser zynischer Unterton bei diesem Thema hie und da durchklingt, mag schon stimmen, aber nach meiner Wahrnehmung liegt das mehr am Untersuchungsgegenstand als an den AutorInnen dieses Buches.
Vielen Rezensionen im Internet - vor allem den umfangreicheren - sieht man auf den ersten Blick an, wo sprichwörtlich "der Schuh drückt": McGrath beging ein Sakrileg, indem er es wagte, Dawkins zu kritisieren. Der negative Grundtenor der im Internet veröffentlichten Besprechungen des Buches ist somit keine große Überraschung, denn gerade im Web darf man Herbert Marshall McLuhans medienwissenschaftliche Kurzformel "The medium is the message" niemals außer Acht lassen.

Gleich Vorweg: Diese Kurzbeschreibung ist mit Sicherheit nicht als Defensio der McGraths oder ihres Buches gedacht, ich möchte nur ohne die üblichen stereotypen Oberflächlichkeiten eine Zusammenfassung des Buches bieten, die soweit gehen soll, dass man daran ablesen kann, ob man es nun lesen möchte oder nicht. Dabei werde ich meine eigene Meinung sicherlich nicht verschleiern und wer mir dies nicht zugestehen möchte, möge am Besten gleich weiterklicken.

Gottes-Wahn?
Vorab noch ein Geständnis: Das Dawkins-Buch Der Gottes-Wahn habe ich nie vollständig gelesen. Ich kenne Dawkins und seinen Stil aus mehreren Artikeln und Interviews. Weil ich aber regelmäßig an der Decke klebe, wenn jemand schlüssige Argumentationsketten aufbaut und diese dann mit nur einer völlig unnachvollziehbaren und unbegründeten Schlussfolgerung zwischen vorletztem und letzten Glied wieder zerstört, wollte ich mir und meiner Gesundheit diese Lektüre ersparen. Ich kenne also das Dawkins-Buch, auf das sich McGrath bezieht, nur aus Ausschnitten, Zitaten und aus Diskussionen darüber.
Ich hatte nie den Eindruck, dass dadurch ein Nachteil bei der Lektüre oder beim Verständnis des Buches Der Atheismus-Wahn entstanden ist. Vieles von dem, was darin über Dawkins zu lesen ist, hat meine Eindrücke bestätigt, das Meiste hat auch meine Entscheidung bekräftigt, mich nicht auf die Lektüre von Der Gottes-Wahn einzulassen.

Die Streitschrift
Alister McGrath und Joanna Collicutt McGrath legen zweifelsohne eine Streitschrift vor. Der eine ein aus Nordirland stammender Molekularbiophysiker, der sich später zu einem Theologiestudium entschloss, anglikanischer Priester wurde und in Oxford Theologie lehrt, die andere Dozentin für Religionspsychologie in London - beide greifen sie die Ausführungen des an sich als Autor populärwissenschaftlicher Bücher über naturwissenschaftliche Themen geschätzten Richard Dawkins zum Thema Religion an.

Schon das Vorwort ist erhellend und Alister McGrath schildert seinen eigenen Weg vom Atheisten zum anglikanischen Priester - seine nordirische Herkunft und die Erfahrungen, die er dort mit Religion gemacht haben muss, spielen dabei eine wesentliche Rolle: Kaum jemand würde es einem Nordiren, der zwischen 1969 und 1998 dort aufgewachsen ist, wirklich verübeln, wenn er ein überzeugter und begeisterter Atheist wäre.
Streckenweise ist die Darstellung der Reaktionen auf Dawkins sogar sehr amüsant: McGrath zitiert atheistische Reaktionen, die vernichtend ausfallen - Grundtenor: durch seinen Fundamentalismus schadet Dawkins dem Atheismus mehr, als er ihm nützt - und Reaktionen aus dem fudamentalistisch-evangelikalen Bereich, die ihre Begeisterung über einen Gegenspieler, der so ist wie sie selbst, kaum zu verbergen versuchen.

Kindesmisshandlung
Das erste Kapitel steht unter der Überschrift Getäuscht, was Gott betrifft? und behandelt die These, dass Religionen von vornherein eine im Menschen selbst entstandene Illusion aufbauen, ausbauen und verkünden würden. Auf diese Art und Weise verbreiten sie mit Absicht eine Lüge. Als besonders schädlich erachtet Dawkins offenkundig, dass diese Lüge mit staatlichem Rückhalt im Rahmen der Bildungssysteme gelehrt wird: Religiöse Erziehung im Allgemeinen und Religionsunterricht im Besonderen sind also eine Art geistiger Kindesmisshandlung.
McGrath behandelt die Frage der Gottesbeweise auf einer religionsphilosophischen Ebene, die - so berichtet er - bei Dawkins vernachlässigt wird.
Danach gilt die Aufmerksamkeit der These, die moderne Naturwissenschaft habe unwiderruflich und unmissverständlich die Existenz Gottes widerlegt. Hier muss man schon die Thesen Dawkins kennen, um überhaupt verstehen zu können, warum diese Frage mehr als drei Zeilen einnimmt.

Biologische Debatten
Scheinbar ist Dawkins auch auf seinem eigentlichen Fachgebiet, der Naturwissenschaft, nicht sparsam mit spekulativen Theorien. Die von McGrath zitierten Thesen Dawkins muten reichlich komisch an und erinnern mehr an die Zeiten, an denen Naturwissenschafter Forschungsbedingungen wie jene Frankensteins vorfanden. McGrath schafft es auch, bei jeder derartigen These (ob er die anderen nicht zitiert oder ob es keine anderen gibt, kann ich natürlich nicht beurteilen) einen Bezug in das 19. Jahrhundert herzustellen - zum Teil deshalb, weil Dawkins selbst sich auf Werke dieser Zeit beruft.
Für Humanbiologen und Psychologen ist diese Lektüre sicherlich ein guter Pausenfüller: vom Gottesgen über ein Gotteszentrum im Gehirn bis hin zu einem Gottesvirus finden Fachleute allerlei Interessantes. Theologisch geben die Debatten über den Ursprung der Religion wenig her, die McGraths bemühen sich zwar redlich, das auszugleichen, aber es mag nicht so recht gelingen.

Best of Böse
Zäh wird es dann im letzten Kapitel. Die Frage, ob Religion böse sei oder gut, baut McGrath entlang der Thesen Dawkins auf und bringt einige stichhaltige Argumente dafür, dass diese Frage auf seriöse Art und Weise nicht zu beantworten ist. Auch hier stehen mehr Stimmen aus dem organisierten Atheismus Pate für die vernichtende Dawkins-Kritik, religiöse Belege müssen kaum herhalten. Einzig der soziologischen These, Religion begünstige die Bildung von Ingroups und Outgroups (also "Wir und die anderen"-Dichotomien) begegnet der Autor mit einer Reihe von biblischen Belegen, die leicht die Assoziation eines Steinbruchs wecken kann. Trotzdem ist der Vorwurf der Steinbruchexegese unberechtigt, denn bei näherem Hinsehen ist die Auswahl der Stellen klug und differenziert, auch wenn der Autor dabei einer fragwürdigen Grundthese über das Verhältnis von AT und NT folgt.
McGrath schreibt jedenfalls mit theologischer Kompetenz über das Thema. Diese Kompetenz vermissen bei Dawkins sehr viele seiner Kritiker, nicht nur Alister McGrath, der ihm zum Beispiel an einer Stelle vorwirft, Paulus für den Verfasser des Hebräerbriefes zu halten. In der London Review of Books hat Terry Eagleton (marxistischer Literaturtheoretiker) dieses Defizit auf den Punkt gebracht:
Imagine someone holding forth on biology whose only knowledge of the subject is the Book of British Birds, and you have a rough idea of what it feels like to read Richard Dawkins on theology.
(Stellen sie sich vor, es lässt sich jemand über Biologie aus, der sein einziges Wissen über das Fach aus einem Buch über die Vögel Großbritanniens hat. Dann heben sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, von Richard Dawkins etwas über Theologie zu lesen.)

Gleiches mit Gleichem?
Zusammenfassend noch einmal zurück an den Anfang. Die Frage, ob es sich lohnt, das Buch der McGraths zu lesen, muss immer noch jedeR für sich selbst entscheiden. Die Vorwürfe der KritikerInnen McGraths kann ich zwar in manchen Passagen verstehen, bestätigen kann ich sie jedoch nicht: Unzählige Anmerkungen, die man zwar in Form von Fußnoten besser als durch Endnoten anordnen und zudem noch durchgehend nummerieren hätte können, zeigen ein gelungenes Bemühen um Wissenschaftlichkeit und das obige Zitat ist ein Beispiel dafür, dass diese auch der (stichprobenartigen) Überprüfung standhalten. Vorwort und Zusammenfassung - mehr scheinen die meisten RezensentInnen nicht gelesen zu haben - tragen natürlich die Rhetorik eines Diskussionsbeitrages, oder wie ich es eingangs genannt habe, einer Streitschrift.
Wer im Zuge der Lektüre vergisst, dass er einen Beitrag zu einer Diskussion vor sich hat, dem ist natürlich nicht zu helfen und vermutlich nicht nur von dieser Lektüre abzuraten, denn hier wird klar Position bezogen, auch wenn es erfrischenderweise nicht die eine und auch nicht die andere Extremposition ist, sondern ein Plädoyer für eine sachliche und vorurteilsfreie Debatte über Religion und Religiosität.

Bis zum Schluss?
Genauso wenig, wie McGrath sich scheut, Dawkins anzugreifen und seine Position als fundamentalistisch zu entlarven, genauso wenig scheut er sich auch, intellektuell redliche Religionskritik aufzunehmen und ihr beizupflichten. Obwohl beispielsweise der Umgang mit Feuerbach noch Verbesserungspotential enthält, schafft McGrath es doch, eine Verteidigung der Mitte zwischen Evangelikalen Gotteskämpfern und fundamentalistischen Atheisten einzunehmen. Er endet mit der Frage:
Und könnte gar der Atheismus ein Gotteswahn sein?
Damit geht er schon sehr weit, allerdings noch nicht bis zum Ende, denn dort sollte eine andere Frage stehen:
Ist nicht der Atheismus einfach auch "nur" eine Religion?

Collicutt McGrath, Joanna / McGrath, Alister: Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus. Original: The Dawkins Delusion?; Übersetzung ins Deutsche von Rabea Rentschler, deutsche Ausgabe Verlagsgruppe Random House GmbH: München (2)2008.
ISBN 978-3-86591-289-3.